Da ist was in Rutschen gekommen

26.05.2020 | Ausschussarbeit, Sozialpolitik

Selten gab es im EMPL-Ausschuss so viel Einigkeit wie heute. Fraktionsübergreifend hat man die Meldungen über die Hindernisse für Grenzgänger*innen, über die Unterbringungsbedingungen eingeflogener Saisonkräfte auch Bulgarien und Rumänien für die deutsche Spargelernte und über die Infektion Hunderter Arbeiter*innen in den niederländischen und deutschen Schlachthäusern mit großer Sorge und Unverständnis aufgenommen. Viele haben sich gefragt: Wo bleiben dabei die Werte der Europäische Union, ihre Prinzipien und Rechte?

Aus diesem Grund wurden heute Kommissar Nicolas Schmit, Josip Aladrović, kroatischer Minister für Arbeit und Rentensysteme, und Jordi Curell Gotor, der geschäftsführende Exekutivdirektor der neuen Europäischen Arbeitsbehörde (ELA) im Sozial- und Beschäftigungsausschuss zu der besorgniserregenden Situation mobiler Beschäftigte in Europa angehört.

Grenzgänger*innen

Mit dem Beginn der Corona-Krise und den damit einhergehenden Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionsrate hat sich auch der Alltag für die 1,5 Millionen Grenzgängern in der Europäischen Union drastisch verändert. Grenzgänger pendeln per Definition täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich von ihrem Arbeitsplatz im (Nachbar)Staat nach Hause, damit sie alle Sozialversicherungsrechte erhalten können, die sie üblicherweise nach der Koordinierungsverordnung über die soziale Sicherheit (VO 883/2004 und DO 987/2009) erhalten würden.

Als im März 2020 quasi über Nacht viele Binnengrenzen geschlossen wurden, wussten viele Grenzgänger*innen am nächsten Tag nicht, wie sie zur Arbeit kommen sollten. In einigen Ländern wie Polen oder Tschechien wurden in den darauffolgenden Wochen Maßnahmen über Maßnahmen erlassen, die das grenzüberschreitende Arbeiten nach geltendem Recht faktisch nicht mehr möglich machten: Polnische Grenzgänger mussten etwa über mehrere Wochen nach ihrer Rückkehr nach Hause in 14-tägige Quarantäne (und der gesamte Haushalt gleich mit), dann durften sie wieder 14 Tage im Nachbarstaat arbeiten – immer im gleichen Rhythmus. Nach zahlreichen Protesten wurde die Regelung in Polen allerdings wieder aufgehoben. In Tschechien mussten Pendler drei Wochen am Stück in Deutschland oder Österreich arbeiten und durften erst dann wieder nach Hause – dann aber ebenfalls zwei Wochen in der häuslichen Quarantäne bleiben. Dort wurde darüber hinaus ein Stempelsystem für Grenzgänger eingeführt, um zu prüfen, ob sie mindestens dreimal pro Woche in den Grenzstaat pendeln. Die Tschechische Republik hat damit eine Definition des Grenzpendelns eingeführt, die so nicht im europäischen Recht definiert ist. Darüber hinaus durfte man nur bis zu einem max. 100 km von der Grenze entfernten Dienstort pendeln – ebenfalls eine Beschränkung, die mit der Arbeitsrealität vieler Grenzpendler überhaupt nichts zu tun hatte.

,,Jeder möchte den Profit abschöpfen, aber am Ende möchte niemand verantwortlich sein,
für das was man angerichtet hat!“ – Gaby Bischoff

Auch wenn Minister Josip Aladrović in seinem Statement sagt, dass den europäischen Mitgliedsstaaten daran gelegen ist, die soziale Absicherung aller Beschäftigten zu gewährleisten, weisen deren nationalen Alleingänge aber auf etwas anderes: Die meisten Mitgliedstaaten interessieren sich nicht wirklich für die Rechte der mobilen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Mit dieser Haltung erodiert das Vertrauen der Beschäftigten in den europäischen Arbeitsmarkt.

Forderungen nach europäischen Lösungen von mir und anderen Abgeordneten blieben in der Substanz unbeantwortet. Als Berichterstatterin für die Revision der Koordinierung der sozialen Systeme habe ich zudem die kroatische Ratspräsidentschaft und die Botschafter und Arbeits- und Sozialminister ersucht, sich für die Einhaltung europäischen Rechts einzusetzen. Doch ein deutliches Zeichen fehlt bislang.

Saisonkräfte

Aufgrund der Grenzschließungen fehlen darüber hinaus Tausende Helfer auf unseren europäischen Feldern. Deutschland und das Vereinigte Königreich ließen daher mittels einer Sonderregelung Saisonkräfte aus Bulgarien und Rumänien einfliegen, damit die Ernte eingeholt werden kann.

Rund 33.000 Menschen sind nach Angaben des Landwirtschaftsministeriums seit Beginn der Coronakrise Mitte März bis heute nach Deutschland gekommen. Wenn man in dieser schwierigen Zeit Ausnahmen von den geltenden Einreisebeschränkungen für Saisonarbeitskräfte vornimmt, ist es umso wichtiger, dass die geltenden Mindeststandards bei Entlohnung und beim Arbeits- und Gesundheitsschutz in den Betrieben angewandt werden. Dies habe ich auch in einem Brief, den ich gemeinsam mit meinem SPD-Genossen Ismail Ertug an die Minister Seehofer und Klöckner gesendet habe, zum Ausdruck gehabt.

Leider werden miserable Arbeits- und Unterbringungsbedingungen sowie Tricks bei der Entlohnung nun von der fahrlässigen Bereitwilligkeit einer Infektion der Saisonkräfte mit dem Coronavirus begleitet. Die praktischen Ratschläge der Kommission und die Forderungen von Politikern und Gewerkschaften, sich an das Recht zu halten und die Standards einzuhalten, fruchten nicht wirklich.

Die Sicherheit der mobilen Beschäftigten sei unsere gemeinsame Verantwortung, sagt Kommissar Nicolas Schmit, aber die Arbeitgeber müssen die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz gewährleisten. Ob sich die Arbeitgeber an das Gesetz halten, dafür seien allerdings die Mitgliedsstaaten und ihre nationalen Behörden, die das Recht in ihrem Land durchsetzen und kontrollieren müssen, sagt auch ELA-Chef Jordi Curell Gotor in der Anhörung. Doch in Deutschland beispielsweise ist die Zollabteilung Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), die für die Kontrolle eben jener Bestimmungen zuständig ist, unterfinanziert und technisch mangelhaft ausgestattet.

Werkvertragsarbeiter

Auch in zahlreichen deutschen Fleischbetrieben haben sich die vornehmlich aus Osteuropa stammenden Werkvertragsnehmer mit dem Virus angesteckt. Nachdem Leiharbeit über Tarifverträge, Gesetzesänderungen und die Rechtsprechung stetig stärker reguliert wurde, z. B. bei der Beschäftigung von Leiharbeitnehmern aus Drittstaaten, setzen Unternehmen verstärkt auf Subunternehmen in ihren Betrieben für einen flexibleren Personaleinsatz. Die Subunternehmen werden im Rahmen von Werk- oder Dienstverträgen von den Unternehmen beauftragt.

Leider werden Werkverträge oft dazu missbraucht, arbeits­rechtliche Schutzvorschriften zu umgehen. Bei den aktuellen Fällen in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen waren unter anderem die beengten Wohnverhältnisse und die Missachtung der Abstandsregelungen für die Infektion der Arbeiterinnen und Arbeiter mit Covid-19 verantwortlich. Auch lange Arbeitszeiten mit kaum Pausen und eine schlechte Bezahlung sind in dieser Branche ein Dauerproblem. Durch das System der Subunternehmerschaft schieben die Betriebe die Verantwortung weit von sich weg. In Reaktion darauf hat das deutsche Bundeskabinett ein Verbot von Werkverträgen und Arbeitnehmerüberlassungen in der Fleischindustrie beschlossen. Gut, dass sich dort endlich was bewegt.

Unsere europäische Wirtschaft ist auf die Ausbeutung von Beschäftigten aufgebaut

Die Pandemie macht sichtbar und treibt auf die Spitze, was schon seit Jahren bei uns ins Rutschen gekommen ist: Wir haben Länder, dazu zählt auch Deutschland, in denen im großen Maßstab Beschäftigte ausgebeutet werden. Wollen wir auf diesem Modell unseren europäischen Arbeitsmarkt aufbauen? Und wenn wir nicht die Beschäftigten aus den EU-Staaten ausbeuten, dann wenden wir uns jenseits der Grenzen an die Drittstaaten, wie es auch schon heute vielfach der Fall ist.

Die mobilen Arbeitnehmer haben gemäß Artikel 45 des EU-Vertrags das Recht auf Gleichbehandlung mit nationalen Arbeitnehmern in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Jeder Mensch, der in Europa die Freizügigkeit wahrnimmt, darf daher nicht diskriminiert werden, muss geschützt werden. Hier gibt es noch dringenden Handlungsbedarf, denn sonst funktioniert der europäische Arbeitsmarkt nicht mehr.

Das Schlussplädoyer von Kommissar Nicolas Schmit (siehe Video oben) war emotional und deutlich. ,,Wie kommt es, dass so ein fantastisches Recht, wie das Recht auf Mobilität und die Freizügigkeit, sich verwandelt hat in einen Albtraum für Tausende von Arbeitnehmern, die normalerweise, wie Gaby Bischoff sagte, dieselben Rechte genießen sollten? Die Rechtslage ist klar, die Gesetze sind klar, die Richtlinien sind vorhanden – das Problem liegt bei der Umsetzung, bei den Kontrollen der Gesetze.“ Die Mitgliedsstaaten müssen sich ihrer Verantwortung bewusst werden und endlich umsteuern.

Meine Kolleg*innen im Europaparlament haben sich heute nicht mit politischen Phrasen abspeisen lassen. Ich fordere klare Maßnahmen und Sanktionen für die Länder, deren Geschäftsmodell auf der Ausbeutung mit basiert. Guidelines zu produzieren kann ein erster Schritt sein, aber das reicht nicht. Die EU muss für ihre Werte einstehen.

Gerade vor dem Hintergrund der anstehenden Ratspräsidentschaft richten viele den Blick auf Deutschland. Umso gravierender ist das Bild, dass unser Land mit Nachrichten von den Feldern und den Schlachtbetrieben im Ausland hinterlässt.

Die komplette Anhörung kann man sich unter diesem Link anschauen: https://multimedia.europarl.europa.eu/de/empl-committee-meeting_20200526-1400-COMMITTEE-EMPL_vd

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