„Wann kann ich in Rente gehen? Wann wird Schulunterricht endlich digitaler? Finde ich einen Kitaplatz für meine Kinder?“: Diese Fragen spielen eine große Rolle im Leben der EU-Bürger*innen. Im gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum der EU ist es notwendig, dass die Mitgliedsstaaten ihre Wirtschaftspolitik miteinander abstimmen und gemeinsame Zielvorstellungen verfolgen. Diese Koordinierung findet seit 2010 im Rahmen des sogenannten Europäischen Semesters statt. Jedes Jahr aufs Neue bestimmen die EU-Staaten in der ersten Jahreshälfte Leitplanken für ihre Wirtschafts-und Fiskalpolitik, u.a. mit Auswirkungen auf nationale Sozial- und Bildungspolitiken. Deshalb wird dieser Prozess als „Semester“ bezeichnet.
Das Europäische Semester folgt einem klar definierten Fahrplan, an dessen Anfang die Europäische Kommission einen Jahreswachstumsbericht mit politischen Leitlinien für das kommende Jahr vorlegt. Das Semester endet mit der Festlegung der nationalen Haushalte, die vorher abgestimmt wurden und bestenfalls im Einklang mit den Leitlinien der Kommission stehen.
Was soll das EU-Semester erreichen?
Das Europäische Semester soll:
- das Wirtschaftswachstum fördern;
- makroökonomische Ungleichgewichte in der EU verhindern (z. B. hohe Defizite oder Überschüsse in einem Mitgliedsstaat, übermäßige Privatverschuldung oder Immobilienblasen);
- solide öffentliche Finanzen gewährleisten (eine zu hohen Staatsverschuldung vermeiden);
- die wirtschaftliche Angleichung und Stabilität der Mitgliedsstaaten in der EU sichern.
Wie wirkt sich die Pandemie auf den Semester-Prozess aus?
In allen Ländern der EU sind die wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie bemerkbar. Um im Anschluss an die Pandemie die Wirtschaftsleistung in der EU neu anzukurbeln, müssen die Mitgliedsstaaten jetzt besonders eng zusammenarbeiten. Das EU-Semester wurde deshalb im letzten Jahr vor allem dafür genutzt, die zahlreichen (teils kurzfristigen) Krisenmaßnahmen zu koordinieren und zu bewerten.
Das BIP ist im letzten Jahr in der EU bereits um 6,4 % gesunken und es wird dauern, bis die Wirtschaftsleistung wieder auf das Vorjahresniveau ansteigt. Aufgrund dieser besonderen Situation haben sich die EU-Finanzminister*innen auf einen historischen Schritt geeinigt: Die europäischen Regeln für Haushaltsdefizite der Mitgliedsstaaten, die im Stabilitäts- und Wachstumspakt verankert sind, werden bis auf weiteres ausgesetzt. Das erlaubt den Mitgliedsstaaten, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Pandemie wirksam zu bekämpfen, Arbeitsplätze wo möglich zu halten und die Erholung der Wirtschaft zu unterstützen. Dieser Schritt darf nicht zu früh wieder rückgängig gemacht werden, denn die EU-Staaten brauchen jetzt Zeit, um ihre Wirtschaftssysteme zu stabilisieren und sich für zukünftige Krisen zu wappnen.
Zusätzlich wurde mit der neuen Legislaturperiode eine neue Kommissionsführung gewählt, die mit dem europäischen ,,Green Deal“ die grundsätzliche Ausrichtung des Europäischen Semesters beeinflusst hat. Um ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum mit dem Übergang zu einer grünen und digitalen Wirtschaft zu meistern, legen die Mitgliedstaaten im aktuellen Europäischen Semester ihr nationales Reformprogramm gemeinsam mit ihrem Aufbau- und Resilienzplan vor. Dadurch erhält die EU eine Übersicht der Reformen und Investitionen, die die EU-Länder im Einklang mit diesen Zielen vornehmen werden. Statt den üblichen Länderberichten, wird die Kommission den EU-Staaten eine inhaltliche Bewertung der Pläne zur Überwindung der wirtschaftlichen Folgen aus der Pandemie vorlegen.
Was hat das mit dem sozialen Europa zu tun?
Der Wiederaufbau kann nur gelingen, wenn wir das EU-Semester anpassen und die Säule sozialer Recht zu einem richtungsweisenden Kompass für die Wirtschaftspolitik in der EU machen. Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig starke Sozialsysteme und nachhaltige Investitionen in den öffentlichen Sektor sind. Denn sie ermöglichen es Ländern, besser durch Gesundheitskrisen sowie andere Ausnahmesituationen zu kommen und sich anschließend schneller zu erholen. Wir müssen wegkommen von der Vorstellung, dass Sozialausgaben eine Haushaltsbelastung darstellen. Im Gegenteil, sie sorgen für eine krisensichere und stabile Union, die auch zukünftig für ein besseres Leben ihrer Bürger*innen sorgen kann.
Anfang März haben wir uns im Europaparlament zum anstehenden Semesterprozess positioniert und unsere Prioritäten für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik genannt. Im Bericht des Beschäftigungs- und Wirtschaftsausschusses stellen wir fest, dass ein soziales und gerechteres Europa sich nur verwirklichen lässt, wenn die europäische Sozialpolitik auf gleicher Stufe mit der Wirtschafts- und Finanzpolitik steht. Meine Rede diesem Thema aus der Plenarsitzung könnt ihr hier ansehen.
Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um Lehren aus der Wirtschafts- und Gesundheitskrise zu ziehen, mit der wir konfrontiert sind. Es ist deutlich geworden, dass die Sparpolitik gescheitert und die Zeit für eine starke europäische Sozialpolitik gekommen ist. Packen wir es an, für ein soziales Europa!