Heute haben wir im Ausschuss für konstitutionelle Fragen (AFCO), dessen Vizevorsitzende ich bin, ein Initiativbericht zur Bewertung der Wahlen zum Europaparlament von 2019 diskutiert und zur Abstimmung gestellt. Der Bericht, der viele Vorschläge von mir und anderen S&D-Abgeordneten aufgreift, behandelt insbesondere die rechtlichen und tatsächlichen Umstände der letzten Europawahlen. Mehr als anderthalb Jahre nach dem Wahltermin ist es nun Zeit zu reflektieren, in welchen Bereichen die Wahl erfolgreich verlief und wo noch Verbesserungsbedarf besteht.
Zunächst kann festgestellt werden, dass der Trend zu einer immer weiter sinkenden Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2019 gestoppt werden konnte. Dies ist neben den unermüdlichen Bemühungen der Zivilbevölkerung auch auf eine stärkere „Europäisierung“ der Wahlen zurückzuführen. So wurden durch die Kandidatinnen in Zusammenarbeit mit nationalen und europäischen Parteien besonders solche Themen angesprochen, die für die Wählerinnen von großer Bedeutung waren und nur auf Unionsebene angemessen adressiert werden können: etwa die Bekämpfung des Klimawandels sowie Fragen eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums.
Auch hat das Europaparlament bis zum Schluss am Spitzenkandidatinnen-System festgehalten und damit den Bürgerinnen signalisiert, dass sie durch ihre Wahlentscheidung Einfluss haben auf die Besetzung eines der wichtigsten Posten der EU, den des/r Kommissionspräsidentin. Umso enttäuschender war es für die Wählerinnen, dass der Europäischen Rat sich weigerte eine/n Spitzenkandidatin zum/r Kandidatin zu ernennen. Hierdurch wurde das Vertrauen in die europäische Demokratie nachhaltig verletzt. Dies darf bei der nächsten Europawahl nicht nochmal passieren, weil wir sonst das Vertrauen in das demokratische System der EU verspielen.
Im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit konnte durch die Erhöhung des Frauenanteils im Europäischen Parlament ein kleiner Erfolg verbucht werden, jedoch bedarf es noch großer Anstrengungen, bevor von einer gleichberechtigten Teilhabe gesprochen werden kann. Hierbei können auch paritätisch besetzte Wahllisten – wie wir sie als SPD bereits haben – in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.
Schlussendlich darf die Bestandsaufnahme der vergangenen Europawahl kein reiner Selbstzweck sein. Daher fordere ich als Teil der S&D Fraktion, dass aus den Erkenntnissen die richtigen Schlüsse gezogen und vor den nächsten Europawahlen 2024 in die Tat umgesetzt werden. Hierzu gehört auch eine Überarbeitung des europäischen Wahlrechts. Bisher wird dieses in wichtigen Bereichen national geregelt, was sich nachteilig auf die Vergleichbarkeit der Wahlergebnisse in den verschiedenen Mitgliedsstaaten auswirkt. Harmonisierungsbedarf besteht beispielsweise bei Fragen wie dem Wahlalter, Bedeutung und Einflussmöglichkeiten der europäischen Parteien, der transparenten und demokratischen Besetzung von Kandidat*innenlisten sowie der Festsetzung eines einheitlichen Wahltags.
Eine besonders entscheidende Rolle für wichtige institutionelle Fragen auf Unionsebene wie z. B. dem Wahlrecht soll insbesondere der „Konferenz zur Zukunft Europas” zukommen. Diese böte durch die maßgebliche Bürgerinnenbeteiligung die richtige Plattform, um in einem demokratisch legitimierten Verfahren Reformen wie beispielsweise die verbindliche Verankerung des Spitzenkandidatinnen-Systems sowie die mögliche Einführung von transnationalen Listen zu diskutieren. Umso entscheidender ist es also, dass das Europäische Parlament in Zusammenarbeit mit dem Rat und der Kommission diesem Vorhaben die höchste Priorität zuschreibt und den Beginn der Konferenz noch in diesem Jahr einleitet. Das ist die Voraussetzung, um die notwendigen Schritte auf dem Weg zu einer noch demokratischeren und handlungsfähigeren Europäischen Union zu gehen.