Am 07. und 08. Mai lädt die portugiesische EU-Ratspräsidentschaft zum Sozialgipfel in Porto ein. Vor dreieinhalb Jahren fand der erste Sozialgipfel in Göteborg statt. Das Ergebnis war eine gemeinsame Erklärung für mehr soziale Gerechtigkeit, gute Arbeit und Bildungschancen. Mit der Europäischen Säule sozialer Rechte, einem politischen Kompass mit 20 Grundprinzipien, soll dieses Vorhaben umgesetzt werden.
Aber mit Grundsätzen allein lässt sich kein sozialeres Europa bauen. Wie der Übergang von Prinzipien zu konkreter Politik gelingen soll, beschreibt der Aktionsplan, den die Europäische Kommission im März 2021 vorgelegt hat. In Porto soll daraus nun eine EU-weite Strategie werden, mit klaren Handlungsverpflichtungen, auch für die nationalen Regierungen, und drei Kernzielen bis zum Jahr 2030:
• Mindestens 78 % der Bevölkerung zwischen 20 und 64 Jahren sollen einen Arbeitsplatz haben.
• Mindestens 60 % aller Erwachsenen sollen jedes Jahr an Fortbildungen teilnehmen.
• Die Anzahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen soll um mindestens 15 Millionen sinken.
Was kann der Sozialgipfel bewirken? Kann er – mitten in der Pandemie – neuen Aufschwung geben für einen gerechten Wiederaufbau? Wird der Aktionsplan zur Umsetzung der Säule Sozialer Rechte wirklich zu konkreten sozialpolitischen Maßnahmen in den EU-Staaten führen?
Darüber habe ich am 4. Mai mit den folgenden Gästen diskutiert:
• Nicolas Schmit, EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte
• Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)
• Dr. Ina Czyborra, MdA und Landesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Berlin
Ich freue mich sehr, dass ich mit Nicolas Schmit und Reiner Hoffmann zwei herausgehobene Protagonisten für die Diskussion gewinnen konnte, die sich seit vielen für ein sozialeres Europa einsetzen und beim Sozialgipfel in Porto eine wichtige Rolle spielen werden. Aber Ina Czyborra hat die Veranstaltung durch ihren scharfen Blick auf die soziale Lage vor Ort und ihre Erfahrungen als Landesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Berlin besonders bereichert. Bereits Marie Juchacz, die Gründerin der AWO, hat erkannt: „Neue Zeiten bringen neue Ideen und machen neue Kräfte mobil.“ – könnte es ein passenderes Motto für den Sozialgipfel in Porto geben?
Den Auftakt in der Diskussion machte Reiner Hoffmann mit einem klaren Bekenntnis zu armutsfesten europäischen Mindestlöhnen als Kernelement eines sozialen Europas. Das langfristige Ziel für Europa müsse aber lauten, die Tarifbindung in allen Ländern zu erhöhen.
„Europa muss gute Arbeit schützen. (…) Das heißt, dass wir gute Tariflöhne überall in Europa brauchen. […] Das geht nur mit Mitbestimmung und guten Arbeitnehmerrechten. Arbeitnehmer und Arbeitgeber sollen an der Gestaltung der Arbeit von morgen beteiligt werden.
Überall in Europa muss die Tarifbindung deutlich steigen: Denn die Tarifbindung schützt am deutlichsten vor Armut.“
Nicolas Schmit legte nach und erklärte die Bedeutung der Europäischen Säule sozialer Rechte auf dem Weg zu einem sozialeren Europa.
„Was bedeutet das soziale Europa? Für mich ist es erstmal die Europäische Säule sozialer Rechte. In dieser Säule wird das europäische Sozialmodell beschrieben. Die 20 Prinzipien der Säule malen das Wesen dieses sozialen Europas aus und sind wichtige Rechte der Menschen in Europa. Zum Ziel einer gerechteren Gesellschaft und einer Arbeitswelt die humaner ist gehört für mich die soziale Aufwärtskonvergenz, weil wir in Europa jedem diese Rechte zukommen lassen müssen. Es gibt leider zu viele Unterschiede zwischen Europäern in jedem Nationalstaat aber auch innerhalb der Mitgliedstaaten.“
Ina Czyborra bezieht ihre Forderungen an den Sozialgipfel direkt auf die Städte in Europa, die durch Abwärtsspiralen in der Sozialpolitik sehr unter Druck stehen:
„Ich wünsche mir ein Europa, in dem das Unterschreiten von Mindeststandards im sozialen Bereich, Einsparungen im Bildungswesen, Lohndumping und schlechte Bezahlung in Gesundheits- und Sorgeberufen nicht als Standortvorteil begriffen werden. Denn gute Löhne, ein guter Zugang zum Gesundheits- und Bildungswesen ist die Grundlage dafür, dass die europäische Gesellschaft existieren kann.“
Alle drei Diskussionsgäste betonten immer wieder die Bedeutung des lebenslangen Lernens und eines gerechten Bildungssystems im Kampf gegen Armut und Arbeitslosigkeit.
Laut Ina Czyborra seien die Bildungschancen eines Kindes umso besser, je früher es in die Kita komme. Leider seien die sozialen Berufe, wie z.B. die Beschäftigung als Erzieher*in, zunehmend unattraktiv, weil die Entlohnung zu schlecht ist. Auch Reiner Hoffmann betont wie wichtig ein gut finanziertes Bildungssystem ist. Aktuell würden wir in Europa sehen, dass die Bildung in zu viele Ländern selektiv ist und vom Geldbeutel der Eltern abhängt. Wenn Kinder und junge Erwachsene bei der Bildung abhängt werden, schlägt sich das in der Erwerbstätigenquote nieder: Während 85 % der höher qualifizierten Europäer*innen einen Arbeitsplatz haben, sind es nur knapp über 50 % bei den geringer qualifizierten.
Von den Zuschauer*innen der Videokonferenz und des Livestreams auf Facebook erreichten mich unter anderem Fragen zu Altersarmut, zu Strategien gegen Obdachlosigkeit, zu einer europaweiten Mindestsicherung oder zu den Ausbildungsbedingungen während der Corona-Pandemie.
Die Antworten darauf und die gesamte Debatte, könnt ihr hier auf YouTube anschauen.