Online-Diskussion: „Proteste gegen das Abtreibungsverbot und für Grundrechte und Demokratie in Polen: Wie können wir jetzt Solidarität mit unseren Nachbar*innen zeigen?“

19.11.2020 | Wahlkreis

Am 10. November habe ich online mit Anna Krenz von Dziewuchy Berlin, Klementyna Suchanow vom polnischen Frauenstreik und Marek Dyduch (SLD) über die aktuellen Proteste in Polen diskutiert. Die ganze Debatte könnt ihr auf Facebook oder YouTube (coming soon) sehen. Hier findet ihr einen Bericht mit den wichtigsten Einsichten zum Nachlesen:

Die Situation in Polen

Am 22. Oktober hat das polnische Verfassungsgericht entschieden, dass die in Polen geltenden Bestimmungen bezüglich der Abtreibung aufgrund eines schweren Fötusdefektes im Widerspruch zur polnischen Verfassung stehen, da diese den „Schutz des Lebens“ verletzen würden.

Schon vor diesem Urteil hatte Polen bereitseines der strengsten Abtreibungsgesetze in Europa. Abtreibungen waren in nur drei Fällen erlaubt:

  1. Die Schwangerschaft stellt eine Bedrohung für das Leben oder die Gesundheit der Frau dar.
  2. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit einer schweren und irreversiblen Schädigung des Fötus oder einer unheilbaren Krankheit, die dessen Leben bedroht.
  3. Die Schwangerschaft wurde durch eine verbotene Handlung (Vergewaltigung oder Inzest) herbeigeführt.

Das Urteil des Verfassungsgerichts bedeutet nun für die Frauen, dass sie ihre Schwangerschaft nicht mehr abbrechen dürfen, wenn der Fötus schwer krank oder stark deformiert ist, auch wenn er keine Überlebenschancen hat.

Seit diesem Urteil gehen in Polen jeden Tag zehntausende Menschen auf die Straße, um für ein selbstbestimmtes Leben für Frauen zu kämpfen.

Klementyna Suchanow, Schriftstellerin und politische Aktivistin für den polnischen Frauenstreik OSK, hat uns einen Einblick in die aktuellen Proteste in Polen gegeben. Sie erzählte, die Wut der polnischen Bürger*innen richte sich stark gegen Kaczyński und die PiS-Partei. Obwohl das Urteil zur Abtreibungsverschärfung im Gericht und nicht im Parlament entschieden wurde, würden die Menschen sehen, welche Ideologie und wessen Einfluss hinter der Gerichtsentscheidung stehe.

Ein roter Blitz, der wie eine Warnung wirken soll, wurde zum Symbol der Protestbewegung in Polen. Laut Klementyna Suchanow soll der Blitz allen zeigen: „Achtung wir sind hier, wir werden nicht gehen, wir kämpfen gemeinsam für unsere Rechte!“. Diese Warnung hat  auch die PiS-Partei wahrgenommen und Kaczyński musste auf die anhaltenden Proteste reagieren. Die offizielle Durchsetzung des Urteils lässt bisher auf sich warten. Für Klementyna Suchanow ist das ein erster Erfolg der Protestbewegung.

Momentan planen die Aktivist*innen vom OSK insbesondere Protestaktionen, die nur wenige Aktivist*innen benötigen, um Massenansammlungen zu verhindern und somit das Ansteckungsrisiko mit dem Corona-Virus möglichst gering zu halten. Zudem wurden in Polen aufgrund von Corona, Ansammlungen von mehr als fünf Personen untersagt.

Zahlreiche Aktionsgruppen planen dezentral, wie die Proteste unter diesen Bedingungen weitergeführt werden können. Klementyna Suchanow freut sich sehr darüber, „dass viele junge Leute selbst Aktionen organisieren und sich verstärkt mit einbringen”.

Der Frauenstreik arbeitet außerdem zum ersten Mal mit den Gewerkschaften zusammen, um von deren Erfahrungsschatz für länger andauernde Streiks zu profitieren und Alliierte aus anderen gesellschaftlichen Bereichen zu finden.

Marek Dyduch, Mitglied des Sejms und SLD-Regionalvorsitzender aus Niederschlesien, findet die Entwicklung der Protestbewegung ebenfalls sehr interessant. Die junge Generation in Polen sei überwiegend mit katholischem Religionsunterricht aufgewachsen, aber habe die Ansichten der katholischen Kirche trotzdem nicht stark verinnerlicht. Außerdem sei es ein neues Phänomen, dass sich die Proteste auf fast ganz Polen ausgeweitet haben und sich auch kleine, eher konservative Orte im Osten Polens der Protestbewegung angeschlossen haben.

Mittlerweile haben sich die Proteste in Polen nicht nur geographisch, sondern auch thematisch ausgeweitet. Die Demonstrant*innen fordern grundlegende Rechte, eine unabhängige Justiz und mehr Demokratie für ihr Land.  Nicht nur die Rechte der Frauen sind aktuell in Gefahr, sondern auch verschiedene Minderheiten leiden unter dem politischen Klima in Polen. Für mehr Informationen über die aktuelle Situation von LGBTI-Personen in Polen könnt Ihr Euch die Debatte: “Polen und LGBTI-Rechte – Demokratiefreie Zonen in Europa?” auf meiner Facebook- oder YouTube-Seite anschauen.

Was können wir tun?

Polen ist Teil der Europäischen Union und unser direkter Nachbar. Die Werte, für die die Menschen auf den Straßen Polens kämpfen, sind unsere gemeinsamen Werte, die wir gemeinsam verteidigen müssen.

Klementyna Suchanow wünscht sich – wie auch viele andere Polinnen und Polen – von der EU ein klares Statement gegen die Abtreibungsverschärfung und fordert, verbindliche Regelungen zu EU-weiten Einhaltung von Rechststaatlichkeit und Menschenrechte.

Ich und viele meiner Kolleg*innen im Europäischen Parlament sehen den Zugang zu garantierter legaler Abtreibung als ein Grundrecht, das allen Frauen zugänglich sein sollte. Deshalb wollen wir die Möglichkeit einer Rückerstattung der Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch in bestimmten Fällen in der gesamten EU aus europäischen Mitteln finanzieren. Zudem sollen NGOs, die die Rechte der Frauen verteidigen, durch einen speziellen Zuschussfonds unterstützt werden, da ihnen oft die Mittel der nationalen Regierungen verwehrt werden.

Anna Krenz, Künstlerin, freie Journalistin und Aktivistin für Frauenrechte, hat die Initiative Dziewuchy Berlin (dt.=Mädels) gegründet. Sie hat diesen Ableger der Bewegung Dziewuchy Dziewuchom gegründet, weil sie es wichtig findet, dass die polnische Diaspora sich weltweit für Frauenrechte in Polen einsetzt: „Auch wir sind wütend!“.  Dziewuchy Berlin macht aktuell mit der “bloody week” (dt.=blutige Woche) auf die Gefahren aufmerksam machen, die von einem strikteren Abtreibungsverbot ausgehen. Da der Sexualkundeunterricht sowie der Zugang zu Verhütungsmitteln in Polen teilweise beschränkt sind, könne eine Verschärfung des Abtreibungsverbots Frauen zu illegalen und gefährlichen Abtreibungsmethoden drängen. Diese Frauen werden durch die Gesetzeslage nicht nur kriminalisiert, sondern können bei dem Versuch ihre Schwangerschaft zu beenden auch ihr Leben verlieren.

Anna Krenz hat uns bei der Veranstaltung erzählt, wie jede und jeder einzelne von uns die Aktivist*innen in Polen unterstützen und sich auch von Deutschland aus engagieren kann. Die finanzielle und personelle Unterstützung von feministischen Organisationen seien im Kampf für mehr Frauenrechte elementar. Mit diesen Hilfen könnten Frauen zum Beispiel in anderen Ländern legal einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen und müssen sich nicht in ihrem Heimatland strafbar machen oder ihr eigenes Leben gefährden. Die Organisationen kooperieren grenzüberschreitend und kämpfen laut Anna Krenz für ein gemeinsames Ziel. Ihrer Ansicht schließe ich mich an: “Solidarität und Kooperationen kennen keine Grenzen!”.

Der Zugang zu sicheren, legalen und kostenlosen Schwangerschaftsabbrüchen darf ebenfalls keine Grenzen oder Nationalitäten kennen. Jede und Jeder muss das Recht haben, über den eigenen Körper frei entscheiden zu können!

Lasst uns Solidarität mit den polnischen Frauen zeigen – ob bei einer der vielfältigen Aktionen, die auch hier in Berlin stattfinden, oder online. Die Zusammenarbeit und der Austausch mit den Aktivist*innen sind mir wichtig. Ich verlinke euch hier einige Websites und Social Media-Profilen von Frauenrechtsaktivist*innen über die ihr Informationen zur Lage in Polen erhalten und euch vernetzen könnt.

https://dziewuchyberlin.wordpress.com/ (auf Deutsch)

https://www.facebook.com/DziewuchyBerlin (auf Deutsch)

https://www.instagram.com/dziewuchy_berlin/ (auf Deutsch)

https://twitter.com/DziewuchyBLN (auf Deutsch)

https://www.instagram.com/cielesne/ (auf Englisch)

https://www.instagram.com/strajk_kobiet/

https://www.facebook.com/dziewuchydziewuchom/

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