In dem aktuellen Beitrag Soziales Europa: Verzögert oder vergessen?“ von Table.Europe wurde meine Position als stellvertretende Vorsitzende der S&D-Fraktion aufgegriffen. Ich habe deutlich gemacht: Wenn wir von Bürokratieabbau und Wettbewerbsfähigkeit sprechen, darf das nicht auf dem Rücken der Beschäftigten geschehen. Öffentliches Geld muss gute Arbeit fördern – nicht Lohndumping oder unfaire Wettbewerbsbedingungen.

Gerade die aktuellen Entwicklungen, wie die Omnibus-Verordnung oder die stockenden sozialpolitischen Initiativen der Kommission, zeigen: Es braucht eine klare politische Haltung für ein soziales Europa. Die soziale Dimension der EU darf nicht zur Verhandlungsmasse werden.

Den vollständigen Artikel finden Sie hier: Soziales Europa: Verzögert oder vergessen? von Alina Leimbach.

Wer aktuell in Brüssel nach neuen legislativen Maßnahmen im Bereich Arbeit und Soziales fragt, muss sich vertrösten lassen. Einige Vorhaben verzögern sich sogar, obwohl sie in trockenen Tüchern geglaubt wurden. 

In ihrem Arbeitsprogramm betont Ursula von der Leyen: „Europas Lebensweise hängt von dem Schutz und den Chancen ab, die unser Sozialmodell und unsere soziale Marktwirtschaft bieten.“ Doch Kritiker sehen diese Ankündigung bisher nur als Lippenbekenntnis. Sogar einige als sicher geglaubte Maßnahmen lassen seit Wochen oder Monaten auf sich warten – mit unklarer Aussicht.

Sozialpolitisch engagierte Europaabgeordnete reagieren besorgt. Konkrete Vorschläge der Kommission seien für 2025 nicht vorgesehen, sagt die Grünen-Sozialpolitikerin Katrin Langensiepen. Sie frustriert besonders, dass die Antidiskriminierungsrichtlinie sang- und klanglos aus dem Arbeitsprogramm der Kommission gestrichen wurde: „Das setzt ein deutliches Zeichen“.

„Die Deregulierung hat Vorrang, wie die Omnibus-Gesetze zeigen“, sagt die stellvertretende S&D-Fraktionsvorsitzende Gaby Bischoff. Beide Politikerinnen betonen: Es sei nachvollziehbar, dass die Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit angesichts der geopolitischen Lage gestärkt werden solle. Doch das Soziale dürfe nicht unter die Räder kommen. Langensiepen warnt: „Gibt es keine robuste Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, macht sich das auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene schnell bemerkbar.“

Die Omnibus-Verordnung hat zuletzt viele im Sozialbereich aufgeschreckt. Als „undemokratisches“ Schnellverfahren kritisierten Gewerkschaften und NGOs die Vorgehensweise. Sozialpolitiker befürchten, dass unter dem Vorwand des Bürokratieabbaus weitere Arbeitnehmerrechte abgewickelt werden könnten.

Das bestreitet die Kommission. Auf Anfrage betont ein Sprecher: „Die Kommission ist weiterhin fest entschlossen, das soziale Europa zu stärken. Wir setzen die Europäische Säule sozialer Rechte um und gestalten aktiv die nächste Phase der EU-Sozialagenda.“

Fakt ist: Im Arbeitsprogramm der Kommission für dieses Jahr findet sich kein einziges legislatives Vorhaben. Und im Mission Letter an Sozialkommissarin Roxana Mînzatu sind nur wenige legislative Maßnahmen veranschlagt.

Auch als sicher geltende Initiativen sind ins Stocken geraten. Etwa das Recht auf Abschalten, das als konkrete Gesetzesinitiative im Mission Letter benannt wird. Eigentlich sollte bereits im Frühjahr die Sozialpartneranhörung in die zweite Phase gehen. Doch bisher ist es dazu nicht gekommen. Es sei unklar, ob das Gesetz überhaupt gewollt sei, heißt es in Kommissionskreisen.

Man sei gerade in einer „analytischen Phase“, entgegnet der Kommissionssprecher. Aktuell werde mit einer neu in Auftrag gegebenen Studie neue Daten zum „Mehrwert und den Auswirkungen möglicher EU-Maßnahmen in diesem Bereich“ gesammelt. Eher schleppend läuft es bisher auch beim Thema Arbeitsplatz und KI/algorithmisches Management.

Von einem neuen Mandat für die Europäische Arbeitsbehörde (ELA) ist bislang ebenfalls wenig zu hören: „Es ist bedauerlich, dass wir beim neuen Mandat für die ELA so weit hinter dem Zeitplan sind“, sagt der CDU-Sozialpolitiker Dennis Radtke.

Der ELA-Evaluierungsbericht sollte eigentlich bereits im vergangenen Sommer veröffentlicht werden. Dann hieß es Frühjahr 2025. Aktuell wird gar keine Zeitangabe mehr kommuniziert. Schmallippig heißt es vom Kommissionssprecher, die Bewertung werde von den Kommissionsdienststellen „derzeit fertiggestellt“.

Allerdings: Es gibt auch neue Vorhaben im Sozialbereich in dieser Legislatur. Die EU will ihre erste Anti-Armutsstrategie erarbeiten. Mit Dan Jørgensen gibt es zudem erstmals einen Kommissar mit der Zuständigkeit fürs Wohnen. Jørgensen will etwa eine paneuropäische Finanzierungsplattform für bezahlbaren Wohnraum initiieren, dazu sollen die EU-Beihilferegeln geändert werden. Diese setzen Staaten bei der Subventionierung von bezahlbarem Wohnraum Grenzen.

Sozialdemokratin Bischoff geht die Arbeit zu langsam voran: „Günstiger Wohnraum ist bisher keine Priorität für die EU-Kommission, wenn man es beispielsweise mit dem Thema Bürokratieabbau für Unternehmen vergleicht. Da kann es der Kommission ja nicht schnell genug gehen.“ Dabei könnte aus ihrer Sicht die Änderung der Beihilferegeln tatsächlich große Effekte erreichen.

Andere raten zu mehr Gelassenheit. „Der Diskurs mag derzeit auf anderen Themen liegen, aber das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass wenig passiert“, sagt Sven Schreurs vom Europäischen Hochschulinstitut (EUI). Der Wissenschaftler verweist auf die Juncker-Kommission: „Auch hier gab es anfangs nur wenige Ankündigungen im Arbeitsprogramm und auch viel Kritik, dass seine Pläne nur leere Worte seien.“ Inzwischen gilt Juncker vielfach als Beispiel für bedeutende Schritte beim sozialen Europa.

Andere warnen davor, sozialen Schutz und Wettbewerbsfähigkeit gegeneinander auszuspielen. „Die Kritiker verkennen, dass es bei den Sozialausgaben nicht nur um Umverteilung geht, sondern auch darum, den Verlust von Humankapital zu verhindern und in die Gesundheit und die Fähigkeiten der derzeitigen und künftigen Arbeitnehmer zu investieren“, schrieb Anton Hemerijck, Professor am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, in einem Debattenbeitrag mit Co-Autor Manos Matsaganis. Ihre Beobachtung: „Wenn jemand zeigen kann, dass eine Politik funktionieren könnte, wird sich die Kommission das genau ansehen.“

Ende des Jahres stehen zwei wichtige Projekte im Sozialbereich an. Zum einen die Vorstellung der Quality Jobs Roadmap, in der Sozialkommissarin Mînzatu ihren weiteren Fahrplan im Hinblick auf die Arbeitsmarktpolitik darlegen will. Zum anderen soll dann der neue Aktionsplan zur Umsetzung der sozialen Säule vorgelegt werden. Dann wird sich deutlicher abzeichnen, wie ambitioniert die Kommission im Sozialbereich ist.

Hemerijck meint, Politiker sollten ein Interesse an Sozialfragen haben: „Wird vor lauter Debatten um Verteidigungsfähigkeit und Wettbewerb das Soziale vergessen, laufen sie Gefahr, ihre politische Legitimität aufs Spiel zu setzen.“ Menschen, die sich um ihre soziale Sicherheit sorgten, seien tendenziell anfälliger für Populisten.

Alina Leimbach

Table.Europe

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