Vor 40 Jahren wurde im kleinen luxemburgischen Ort Schengen ein großes europäisches Versprechen gegeben: ein Europa ohne Binnengrenzen. Seit 1985 garantiert das Schengener Abkommen die Freizügigkeit von Menschen, Waren und Dienstleistungen und ist damit eine der zentralen Errungenschaften der europäischen Einigung. Doch dieses Versprechen gerät zunehmend unter Druck.
Derzeit haben elf Schengen-Staaten, darunter auch Deutschland, wieder Kontrollen an ihren Binnengrenzen eingeführt. Offiziell geht es um den Kampf gegen irreguläre Migration und Schleusungskriminalität. In der Praxis erleben wir jedoch vor allem eines: einen Rückschritt. Weg von europäischer Zusammenarbeit, hin zu nationalstaatlichen Reflexen mit spürbaren Folgen für den Alltag von Millionen Europäer*innen.
In der EU gibt es rund 1,8 Millionen Grenzgänger*innen. Das sind Menschen, die in einem Mitgliedstaat leben und im Nachbarland arbeiten. Sie sind das Rückgrat vieler Regionen und Branchen: Pfleger*innen aus Polen arbeiten in Berlin, Bauarbeiter*innen aus Frankreich pendeln nach Luxemburg.
Gerade für Berlin ist diese Freizügigkeit kein abstraktes Prinzip, sondern tägliche Realität. Viele Beschäftigte aus Polen pendeln regelmäßig in die Hauptstadt, insbesondere in der Pflege, im Baugewerbe, in der Logistik und im Einzelhandel. Ohne diesen Austausch wäre der Alltag in zahlreichen Einrichtungen kaum aufrechtzuerhalten.
Ein Blick an die deutsch-polnische Grenze zeigt: Die Grenzkontrollen bringen Staus, Unsicherheit und Planungschaos einher. Wer sich morgens aus Słubice nach Berlin oder Brandenburg auf den Weg macht, kann nicht mehr sicher sagen, wann er oder sie ankommt. Arbeitgeber*innen klagen über Ausfälle, Patient*innen warten auf Personal, Handwerksbetriebe auf Material. Das betrifft nicht nur die Grenzregionen selbst, sondern auch auch uns hier in Berlin ganz konkret.
Die wirtschaftlichen Folgen sind enorm. Eine Studie im Auftrag des EU-Parlaments bezifferte bereits 2016 die potenziellen Kosten dauerhafter Grenzkontrollen auf bis zu 20 Milliarden Euro an einmaligen Investitionen sowie jährlich rund 3 Milliarden Euro an laufenden Betriebskosten, verursacht durch Verzögerungen, Bürokratie, Infrastruktur und zusätzlichem Personalaufwand. Und das in einem Binnenmarkt, dessen Stärke gerade im freien Fluss von Dienstleistungen und Waren liegt.
Sicherheit braucht keine Schlagbäume, sondern Zusammenarbeit. Die Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität gelingt nicht durch Passkontrollen an der Autobahn, sondern durch abgestimmte Ermittlungen, gemeinsamen Informationsaustausch und starker Justizkooperation.
Die offene Grenze ist eine zentrale europäische Errungenschaft – und sie muss es bleiben. Statt kleinteiliger Abschottungspolitik brauchen wir endlich gemeinsame Lösungen: ein gerechtes, solidarisches europäisches Asylsystem, rechtsstaatliche Verfahren und eine faire Verteilung von Verantwortung. Dazu gehört auch eine funktionierende Kontrolle der EU-Außengrenzen, ohne Grundrechte infrage zu stellen.
40 Jahre Schengen sind ein Meilenstein – aber auch eine Mahnung. Denn was in Jahrzehnten aufgebaut wurde, kann in Monaten unterhöhlt werden. Wenn wir Europa ernst nehmen, dann müssen wir auch seine offenen Grenzen verteidigen.