Sie sind oft systemrelevant, aber ihre Probleme und Bedürfnisse sind für große Teile der Öffentlichkeit und Politik unsichtbar. Sie zahlen Abgaben an den Staat, doch sind in Deutschland und anderen Ländern schlechter gestellt als Staatsbürger*innen.

In Deutschland gibt es über eine Million Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, um hier arbeiten: In der Pflege, auf dem Bau, in der Gastronomie, in der Fleischindustrie oder als Erntehelfer*innen. Ohne sie würden diese Bereiche nicht mehr funktionieren. Deutschland und andere EU-Länder sind auf diese Arbeitskräfte angewiesen.

Doch in vielen reichen EU-Ländern wie Deutschland haben diese Menschen häufig keinen ausreichenden Schutz. Bürokratische Schlupflöcher machen es schwarzen Schafen noch immer einfach, die Menschen zu Dumpinglöhnen zu beschäftigen, ohne Krankenversicherung oder Altersabsicherung.

Wenn mobile Beschäftigte einen Unfall haben, arbeitslos oder krank werden oder in Rente gehen, greift in der Regeln ihre Sozialversicherung. Allerdings müssen diese Ansprüche auch über die Grenzen hinweg gesichert werden, damit die Arbeitnehmer*innen nicht ohne Sozialschutz dastehen.

Dafür sorgt die sogenannte #883, die EU-Verordnung über die Koordinierung der Systeme zur sozialen Sicherheit. Sie ist 1958 in Kraft getreten und ist der dritte Rechtsakt der Europäischen Union die älteste Sozialverordnung überhaupt. Das letzte Update hat die Grande Dame der Verordnung im Jahr 2010 bekommen.

Seitdem hat sich viel verändert auf dem europäischen Arbeitsmarkt und es wird Zeit für Verbesserungen, von denen viele Tausende EU-Bürger*innen profitieren könnten.

Seit Beginn meiner Amtszeit 2019 verhandle ich für das Europäische Parlament über die Überarbeitung dieser Verordnung 883. Nach Verhandlungen unter fünf verschiedenen EU-Ratspräsidentschaften und nach 17 sogenannten Trilogen zwischen den EU-Institutionen haben wir am 16. Dezember 2021 endlich einen Kompromiss mit der slowenischen Ratspräsidentschaft ausgehandelt. Die Freude war riesig und ich bin meinem Team unendlich dankbar für die harte Arbeit.

Wenige Tage später kam dann die große Ernüchterung kurz vor Weihnachten: Der Kompromiss wurde von eine knappen Mehrheit von Mitgliedstaaten abgelehnt!

Dass wir uns auf EU-Ebene seit über drei Jahren nicht auf neue Regeln einigen können, ist ein besorgniserregendes Signal an die über 14 Millionen Bürger*innen, die auf gute und faire Regeln in Europa angewiesen sind. Doch wer sind diese Menschen, die in einem oder mehreren Ländern leben und arbeiten und diesen Schutz benötigen und verdienen? 

Ich möchte euch in den kommenden Wochen die Gesichter der #883 vorstellen und mehr Aufmerksamkeit für ihre Probleme und Sorgen erzeugen.

Zuerst möchte ich einige Fragen beantworten, die mir als Abgeordnete und Verhandlungsführerin häufig gestellt werden: 

Was ist die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit?

Streng genommen geht es um zwei Verordnungen:

Die Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist die sogenannte Mutterverordnung, die grundsätzliche Regeln festlegt. Wenn beispielsweise ein Franzose, der in Deutschland arbeitet, krank wird, steht aufgrund der Vorkehrungen in der Verordnung fest, welche Krankenversicherung (die französische oder die deutsche?) zuständig ist.

Solche koordinierenden Regeln, die sich mit der Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten befassen, gibt es in der Verordnung zu diesen Bereichen: 

  • Leistungen bei Krankheit sowie Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft
  • Rentner*innen und ihre Familienangehörigen
  • Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten
  • Sterbegeld
  • Leistungen bei Invalidität
  • Alters- und Hinterbliebenenrenten
  • Leistungen bei Arbeitslosigkeit
  • Vorruhestandsleistungen
  • Familienleistungen

Die zweite Verordnung nennt sich Durchführungsverordnung 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und beschreibt die Umsetzung der Regeln, die in der Mutterverordnung festgeschrieben sind. Salopp gesagt, kann man eine Durchführungsverordnung als eine Art Anwendungsbuch der EU-Regeln verstehen.

Wen betrifft die Verordnung?

Die Koordinierungsverordnung soll Nachteile, die sich aus der Wahrnehmung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die soziale Absicherung ergeben, beseitigen. Sie soll also soziale Sicherung auch über Grenzen hinweg gewährleisten.

In der Europäischen Union arbeiten, studieren oder leben rund 14 Millionen EU-Bürger*innen in verschiedenen EU-Staaten. Diese Menschen profitieren direkt von guten Koordinierungsregeln.

Die Zahl der tatsächlichen Nutznießer*innen der Verordnungen geht in die Millionen: Zum einen haben viele der mobilen Arbeitnehmer*innen Familien, die unter dem Kapitel Familienleistungen berücksichtigt werden. Zum anderen profitieren auch die Regionen Europas von Menschen aus anderen Ländern, die ihre Arbeitskraft dort zur Verfügung stellen

Was soll durch eine Revision der Verordnung verbessert werden?

Handlungsbedarf gibt unter andere in diesen Bereichen:

1) Pflegeleistungen

Mit der Revision soll es zukünftig für Pflegebedürftigkeit eine gemeinsame europäische Definition geben. Außerdem werden die Betroffenen Anspruch auf eine klar umrissenen Liste von Leistungen haben. 

2) Arbeitslosenleistungen

Angestellte zahlen in der Regel in die Arbeitslosenversicherung ein und erwerben, abhängig von den Regeln des jeweiligen Mitgliedsstaats, Ansprüche auf Leistungen für den Fall, dass sie arbeitslos werden.

Für Menschen, die in mehreren Ländern arbeiten, muss sichergestellt werden, dass sie ihre Ansprüche behalten. Insbesondere bei Grenzgänger*innen stellt sich die Frage, wer für sie zuständig ist, wenn sie arbeitslos werden: Der Staat, in dem sie wohnen oder der Staat, in dem sie arbeiten? Diese Frage wird im Rahmen der Verhandlungen behandelt.

3) Familienleistungen

In vielen EU-Mitgliedstaaten gibt es Ansprüche und Leistungen für Familien: Aus Deutschland kennen wir beispielsweise den Mutterschutz, die Elternzeit und das Kindergeld. Auch mobile Beschäftigte haben Anspruch auf solche Leistungen, die zwischen den Mitgliedsstaaten gut koordiniert werden müssen.

Wie profitiert Deutschland von einer gut funktionierenden Koordinierungsverordnung?

Deutschland spielt in Europa aufgrund seiner geographischen Lage eine besondere Rolle: viele Europäer*innen kommen nach Deutschland, um hier zu studieren oder zu arbeiten. Es gibt auch eine große Zahl von deutschen Staatsbürger*innen, die über die Grenze zur Arbeit pendeln, oder in anderen EU-Staaten Saisonarbeit verrichten, etwa zur Wintersaison in Österreich. Diese Menschen müssen sozial abgesichert sein und darauf vertrauen können, dass die Verrechnung und Anerkennung ihrer Ansprüche zwischen den EU-Staaten gut funktioniert.

Die Debatte um den Fachkräftemangel hat darüber hinaus gezeigt, wie sehr wir auf Menschen aus anderen Ländern angewiesen sind. In Deutschland ist die Bevölkerung im Durchschnitt älter, als in anderen EU-Staaten. Die Alterung wird in den nächsten Jahrzehnten noch deutlich zunehmen.

Bauvorhaben ziehen sich in die Länge, Lieferzeiten wachsen und eine gute Krankenversorgung steht auf der Kippe, weil wir nicht genug Bauarbeiter*innen, LKW-Fahrer*innen und Pflegekräfte haben. Als zu Beginn der Pandemie die Grenzen geschlossen wurden, haben wir deutlich gespürt, wie sehr wir auf mobile Arbeitnehmer*innen aus anderen EU-Ländern angewiesen sind. Ohne die ca. 275.000 Saisonarbeitskräfte, die größtenteils aus dem Ausland stammen, wäre beispielsweise die Spargel- und Erdbeersaison 2020 ausgefallen. 

Menschen werden langfristig nur weiterhin nach Deutschland kommen, wenn wir für gute Arbeitsbedingungen und eine soziale Absicherung sorgen. Eine funktionierende 883-Verordnung kann mit rechtssicheren und gut umsetzbaren Regeln dazu beitragen. Dafür setze ich mich ein.

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