Seit dem 1. Januar 2021 ist das Vereinigte Königreich weder Teil des EU-Binnenmarkts noch Mitglied der Zollunion und somit offiziell Drittstaat. Die EU und das Vereinigte Königreich haben im letzten Moment ein Handels- und Kooperationsabkommen ausgehandelt, das seit Beginn des Jahres vorläufig Anwendung findet, bis das Europäische Parlament das Abkommen ausreichend geprüft und darüber abgestimmt hat. Es ist das erste Mal, dass ein Mitgliedsstaat die EU verlässt.
Doch was bedeutet dies konkret? Was beinhaltet das Abkommen? Welche Auswirkungen hat es auf Wirtschaft, Finanzen, Umwelt, Sicherheit und Soziales und vor allem auf die Briten*innen in der EU und EU-Bürger*innen im Vereinigten Königreich? Mit diesen Fragen habe ich mich im Rahmen einer Themenwoche zum Brexit und am 17. Februar 2021 in einer Diskussionsrunde zum Thema „You say goodbye and I say hello“ Das EU-Brexit-Abkommen – harter Abschied oder weich im Kern? beschäftigt. Gemeinsam mit Dr. René Repasi, Professor für Internationales und Europarecht an der Universität Rotterdam und Isabelle Schömann, Vorstandsmitglied des Europäischen Gewerkschaftsbundes, habe ich einen Blick in das Abkommen geworfen und über die Folgen für Arbeitnehmer*innen gesprochen. Anschließend haben uns Jacob Armstrong von Labour Berlin, Laura Sichlinger und Thomas Fröhlich von der SPD London an ihren persönlichen Erfahrungen und Eindrücken, die sie nach dem Brexit in ihrem Beruf und Alltag erleben, teilhaben lassen.
„Es handelt sich um einen harten Brexit im Schafspelz“
Den Anfang machte Dr. René Repasi, der das 1.400-seitige Abkommen in Auszügen erläuterte. Bei dem ausgehandelten Abkommen handelt es sich um ein klassisches Handelsabkommen (wie z.B. TTIP oder CETA), jedoch mit der Besonderheit der engen Zusammenarbeit bei Strafverfolgung und Justiz. Zusätzlich beinhaltet das Abkommen Regelungen zur weiteren Teilnahme des Vereinigten Königreichs in Unionsprogrammen: So bleiben die Briten*innen in der Forschungsförderung, steigen jedoch bei Erasmus+, dem europäischen Förderprogramm für allgemeine und berufliche Bildung, aus. Dr. Repasi machte deutlich, dass im vorläufig angewendeten Handels- und Kooperationsabkommen auf große Teile des Binnenmarktes nicht eingegangen wurde und nun WTO-Handelsrecht angewendet wird. Vor allem beim Warenverkehr wurde der Binnenmarkt nur teilweise geöffnet. Als Beispiel führte er britische Automobile an, die nur dann zollfrei sind, wenn sie weniger als 40 % Bestandteile aus anderen Drittstaaten enthalten. Besonders problematisch für das Vereinigte Königreich sieht Dr. Repasi die Kontrollen an den innerbritischen Grenzen. Bei den Kontrollen muss geprüft werden, ob die Produkte den europäischen Standards entsprechen.
Die im Abkommen beschlossene Überprüfungsklausel regelt, dass das gesamte Abkommen fünf Jahre nach dem Inkrafttreten und anschließend alle weiteren fünf Jahre überprüft und nachverhandelt werden kann. Den größten Unterschied zum Unionsrecht stellt der Ausschluss der „unmittelbaren Anwendbarkeit“ dar. Anders als bisher, können sich nun britische Bürger*innen nicht mehr vor britischen Gerichten auf das EU-Recht berufen. Die einzige Ausnahme stellt das Protokoll zur Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme dar. Aufgrund der verschiedenen Kündigungsklauseln und Änderungsmöglichkeiten bietet das Abkommen wenig Rechtssicherheit.
Jahrzehntelange Fortschritte sind in Gefahr
Anschließend widmete sich Isabelle Schömann vom Europäischen Gewerkschaftsbund der Frage, wie sich das Abkommen auf Arbeitnehmer*innen auswirkt. Sie sieht die jahrzehntelangen Fortschritte beim Arbeitnehmer*innenschutz gefährdet und kritisiert die Pläne der britischen Regierung, die Arbeitszeitrichtlinie zu verändern. Das Handelsabkommen sieht vor, dass sich die EU und das Vereinigte Königreich zu einem fairen Wettbewerb auf Grundlage gleicher Bedingungen verpflichten und ihre hohen Standards aufrechterhalten. Obwohl sich britische Arbeitnehmer*innen nicht vor dem britischen Gericht auf das EU-Recht berufen können, muss das Vereinigte Königreich einen wirksamen Durchsetzungsmechanismus und die Beibehaltung sozialer, steuerlicher, umwelt- und klimabezogener Standards im nationalen Recht vorsehen. Dieser Mechanismus ist sanktionierbar und die EU kann Maßnahmen, z.B. in Form von Strafzöllen, gegen das Vereinigte Königreich erlassen, und vice versa, sollte dagegen verstoßen werden. Allerdings muss dabei nachgewiesen werden, dass eine Schwächung oder Verringerung der Schutzstandards zu Wettbewerbsverzerrungen im europäischen Binnenmarkt führt. Außerdem müssen Gewerkschaften das Recht bekommen, bei Verstößen Beschwerde einreichen zu können, um negative Auswirkungen auf europäische Standards abzuwehren.
Noch immer bestehen große Unklarheiten und Unsicherheit für Briten*innen in der EU und EU-Bürger*innen im Vereinigten Königreich
Laura Sichlinger schilderte im Anschluss ihre persönlichen Erfahrungen. Sie ist nach dem Referendum im September 2016 für ihr Masterstudium nach London gezogen und kritisiert vor allem die Unsicherheiten sowie Unklarheiten über Studiengebühren oder Visen. Sie spürt die Auswirkungen vor allem in ihrem Arbeitsalltag im Labor. Reagenzien und Dienstleistungen aus der EU sind deutlich teurer geworden oder werden nicht mehr angeboten. Langfristige Folgen sieht Laura vor allem durch den Wegfall von EU-Forschungsgeldern. Allgemein sind die Hürden für EU-Studierende deutlich höher, da seit dem 1. Januar eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung benötigt wird, um in London leben und arbeiten zu dürfen. Auf den „Pre-Settled Status“ kann sich jede*r Bürger*in bewerben, der oder die seit mehr als drei Jahren im Vereinigten Königreich lebt.
Zusätzlich ging Thomas Fröhlich auf die gesellschaftlichen Auswirkungen des Referendums 2016 ein. Auch wenn die politischen Auswirkungen 2016 noch nicht spürbar waren, wurde die politische Rhetorik gegenüber EU-Ausländer*innen härter, was sich auch in der Gesellschaft widerspiegelte. Wir benötigen die Förderung von persönlichen Austauschprogrammen, um dieser Radikalisierung in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Die SPD London fordert von der Bundesregierung, die rund 3 Millionen Europäer*innen, darunter rund 300.000 Deutsche, im Vereinigten Königreich nicht zu vergessen.
Abschließend erzählte Jacob Armstrong von einem derzeitigen Projekt der Labour, das die behördlichen, beruflichen und persönlichen Erfahrungen der britischen Genoss*innen in den Mitgliedsstaaten der EU sammelt. Ziel des Projekts ist die Förderung des Austausches untereinander und die gemeinsame Zusammenarbeit, um Forderungen zur Nachbesserung der Lage von britischen Staatsbürger*innen in der EU zu formulieren. Bei der Beantragung von Aufenthaltserlaubnissen in Deutschland machte Jacob auf die Generationsunterschiede aufmerksam, da ein unbegrenzter Aufenthaltsstatus nur von Briten*innen erlangt werden konnte, die ununterbrochen fünf Jahre in Deutschland wohnhaft waren. Jacob erzählte von den Erfahrungen einiger Labour-Mitglieder*innen, die durch den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit deutlich mehr auf ihre Arbeitgeber*innen angewiesen sind. In Berlin lebende Labour-Mitglieder*innen schilderten ihm, dass es ohne die finanzielle Unterstützung des Erasmus+ Programms deutlich schwieriger geworden ist passende Praktikumsplätze in Deutschland zu finden.
Wir müssen mehr Beteiligungs- und Kontrollmöglichkeiten schaffen
Mir ist wichtig klar zu stellen, dass dieses Abkommen Millionen von Menschen bei ihren Perspektiven und Lebensplanungen betrifft und nicht nur von einer institutionellen Seite betrachtet werden darf. Das Abkommen ist komplex, und teilweise „work in progress“. Es ist absehbar, dass die enthaltenen Unklarheiten und Öffnungen zu zahlreichen Konflikten und Schiedsverfahren führen werden.
Im EP analysieren wir derzeit das Abkommen und arbeiten an einer begleitenden Resolution für die Abstimmung über das Abkommen. Dazu haben wir die Positionierungen und Anmerkungen aus den verschiedenen Ausschüssen des Parlaments eingeholt. Wir sind aktuell dabei, die Bedingungen zur Umsetzung des Abkommens sehr genau zu formulieren und dazu interinstitutionelle Zusagen zu erzielen, bevor wir den Zustimmungsbeschluss erteilen. Wir müssen sicherstellen, dass das Parlament bei Veränderungen des Abkommens einbezogen wird und eine stärkere Rolle in den Gremien aber auch bei Äquivalenzentscheidungen erhält. Denn neben dem Partnerschaftsrat werden 10 Handelsausschüsse und 8 Sonderausschüsse eingerichtet. Zudem kann der Partnerschaftsrat weitere Sonderausschüsse einsetzen.
Die demokratische Kontrolle der Umsetzung des Abkommens muss stärker sichergestellt und die regulatorische Autonomie gewährleistet werden.
Die ganze Diskussion könnt ihr euch hier ansehen.